"Die Zwangsjacke" bestellen bei amazon

 

Der Auszug stammt aus dem Buch "Die Zwangsjacke" (amerikanischer Titel "The Starrover" - 

"Der Sternenwanderer")

 

Zum Inhalt des Buches:

Der Professor der Berkeley-Universität für Agrarwirtschaft Darrell Standing hat seinen Kollegen ermordet und sitzt nun lebenslänglich im Gefängnis St. Quentin.

Hart genug scheint allein diese Strafe, doch für Standing kommt es noch schlimmer.

Von einem Mitsträfling wird er beschuldigt, mithilfe von Dynamit einen Ausbruchsversuch geplant zu haben. Der Mithäftling hat dies erfunden, um frühzeitig aus der Haft entlassen zu werden. Die Gefängnisdirektion versucht nun durch Folter aus Standing heraus zupressen, wo das Dynamit, das überhaupt nicht existiert, versteckt liegt. Darrell wird in Einzel- und Dunkelhaft gequält. Zusätzlich versucht man, ihn durch das Anlegen der schreckenserregenden Folter Zwangsjacke, zum Sprechen zu bringen.

Für Standing besteht die einzige Möglichkeit zu überleben darin, zu lernen wie man sein Bewusstsein von seinem Körper abspaltet. Als Standing diese Methode beherrscht, wird er zum "Sternenwanderer", der sich in seinen früheren Leben wiederfindet und dadurch die Unsterblichkeit der Seele erfährt.

In diesem Buch gibt es viele eindrucksvolle Schilderungen, doch mich persönlich hat die folgende nachhaltig bewegt. Darrell Standing befindet sich schon Monate lang in Einzel- und Dunkelhaft:

Anfangs war es sehr einsam in der Einzelzelle, und die Stunden rannen endlos dahin. Bloß die Ablöse der Wachen und der Wechsel von Tag und Nacht markierten die Zeit. Den Tag erkannte ich nur an einem schwachen, helleren Schimmer, aber er war doch besser als das tiefe Dunkel der Nacht. In der Einzelzelle bedeutete "Tag" einen fahlen Lichtschein, der aus der hellen Außenwelt hereinkroch.

Nie reichte das Licht aus, um zu lesen. Es gab auch nichts zu lesen. Man konnte bloß daliegen und grübeln und grübeln. ...

Eine dünne, faulige Strohmatratze auf dem Boden der Zelle war mein Bett. Dazu hatte ich eine dünne, schmutzige Decke. Kein Stuhl, kein Tisch - nichts als die Strohmatratze und die alte Decke. Ich hatte früher nur wenig Schlaf gebraucht und es vorgezogen, mein Gehirn arbeiten zu lassen. In der Einzelhaft aber wird man seiner selbst so überdrüssig, dass man nur in den Schlaf flüchten kann. Jahrelang hatte ich mich nur mit fünf Stunden Schlaf begnügt. Jetzt pflegte ich meinen Schlaf; ich machte eine Wissenschaft daraus. Schließlich war ich imstande, zehn Stunden zu schlafen, dann zwölf, und allmählich brachte ich es auf vierzehn bis fünfzehn Stunden. Aber mehr war unmöglich, und die verbleibenden Stunden musste ich wach liegen und denken und denken. Und eben das kann einen Menschen, der gewohnt ist, seinen Verstand zu gebrauchen, in den Wahnsinn treiben.

Ich suchte nach Mitteln, die wachen Stunden auszufüllen. Ich quadrierte und kubierte lange Zahlenreihen, und mit äußerster Konzentration schuf ich die erstaunlichsten geometrischen Reihen. Ich spielte sogar mit der Quadratur des Kreises - bis ich feststellte, dass ich sie für möglich zu halten begann. Da wusste ich, dass auch hierbei der Wahnsinn lauerte, und so ließ ich das Problem schweren Herzens fallen; es war ein ausgezeichneter Zeitvertreib gewesen.

Vor meinem inneren Auge ließ ich ein Schachbrett erstehen und spielte lange Partien bis zum Matt. Doch sobald ich ein Experte in diesem optischen Gedächtnisspiel geworden war, begann mich die Sache zu langweilen. Wenn derselbe Spieler auf beiden Seiten spielt, kann es nie einen echten Kampf geben. Vergeblich versuchte ich, meine Persönlichkeit zu teilen; ich blieb immer nur ein Spieler, und was die eine Seite plante, wusste im selben Augenblick auch die andere.

Die Zeit floss träge und langsam dahin. Ich spielte Spiele mit Fliegen, gewöhnlichen Stubenfliegen, die mit dem fahlen Licht in meine Zelle kamen. Und ich stellte fest, dass sie einen Spieltrieb besaßen. So legte ich mich zum Beispiel auf den Boden und zog etwa einen Meter über dem Boden eine imaginäre Linie an der Wand. Solange die Fliegen über dieser Linie blieben, ließ ich sie in Ruhe. Im Augenblick aber, da sie sich unterhalb des Striches auf die Wand setzten, versuchte ich, sie zu fangen. Ich achtete sorgfältig darauf, die Fliegen nicht zu verletzen, und bald wussten sie ebenso genau wie ich, wo die imaginäre Linie verlief. Wenn sie Lust zum Spiel hatten, setzten sie sich unter die Linie, und es kam vor, dass eine Fliege dieses Spiel eine ganze Stunde lang betrieb. Wurde sie müde, dann begab sie sich auf das sichere Gebiet oberhalb der imaginären Linie.

Von dem Dutzend Fliegen oder mehr, die damals mit mir lebten, fand nur eine keinen Gefallen an dem Spiel. Sobald sie wusste, was sie unterhalb des Striches erwartete, weigerte sie sich hartnäckig, die geschützte Zone zu verlassen. Diese Fliege war ein griesgrämiges, missmutiges Geschöpf. Sie spielte auch nicht mit den anderen Fliegen. Dabei war sie kräftig und gesund; ich beobachtete sie genau. Ihre Abneigung gegen das Spiel war psychologischer, nicht physiologischer Natur.

Glauben Sie mir, ich kannte meine Fliegen, und ihre vielen individuellen Eigenarten überraschten mich. Ja, fraglos war jede von ihnen eine Persönlichkeit; nicht nur was das Äußere - die Größe, Zeichnung, Fluggeschwindigkeit und die Art des Spiels betraf, auch in Charakter und Temperament waren sie unterschiedlich.

Ich kannte die nervösen und die phlegmatischen unter ihnen. Da war eine besonders kleine Fliege, die richtig wütend wurde, mal auf mich, mal auf ihre Gefährten. Haben Sie jemals ein Fohlen oder ein Kalb gesehen, das aus purer Lebenslust wie verrückt über die Weide springt? Nun, es gab eine Fliege - übrigens die eifrigste Spielerin von allen -, die, wenn sie mir durch ihr Geschick drei- oder viermal entwischt war, so aufgeregt wurde, dass sie wieder und wieder in engen Kreisen in rasender Geschwindigkeit um meinen Kopf surrte, um ihren Triumph über mich zu feiern.

Ich wusste es bereits vorher, wenn eine bestimmte Fliege Lust zum Spielen bekam. Ich erkannte es an einer Unzahl von Einzelheiten, mit denen ich Sie hier nicht langweilen will, obwohl gerade sie mir in der ersten Zeit halfen, nicht in totale Apathie zu verfallen. Nur eines muss ich noch berichten. Ich werde nie den Augenblick vergessen, in dem sich die missgelaunte Fliege, die niemals spielen wollte, versehentlich in der verbotenen Zone niederließ und sofort von mir gefangen wurde. Man sollte es glauben, aber eine Stunde lang war sie tödlich beleidigt.

Und doch wurde die Zeit lang in der einsamen Zelle.

Das Buch "Die Zwangsjacke" ist ein eher unbekanntes Spätwerk Jack Londons. In deutscher Sprache ist es seit Jahren nicht mehr aufgelegt worden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Lockruf des Goldes" bestellen bei amazon

 

Das folgende Zitat stammt aus einem der bekanntesten Romane Jack Londons "Lockruf des Goldes".

 

Zum Inhalt:

Elam Harnish, von seinen Alaska-Kumpanen nur "Burning Daylight" genannt, ist auf der Suche nach dem ganz großen Goldfund.

Und irgendwann wird sein unermüdliches Suchen belohnt: Er entreißt der Erde einen unermesslichen Schatz an Gold und mehrt sein Vermögen noch zusätzlich durch Grundstücksspekulationen in Dawson City und die Einrichtung von Sägemühlen, die das Holz zum Häuserbau für die aufstrebende Goldgräberstadt liefern.

Nun, da das Fieber nach Reichtum ihn gepackt hat, strebt Harnish alias Daylight nach mehr: Mit seinem riesigen Vermögen will er sich in der Großstadt in der Finanzwelt behaupten. Im frühkapitalistischen Amerika entwickelt sich der Junge aus Alaska zu einem der ganz großen Wirtschaftsmagnaten. Doch die Jagd nach dem Geld verändert seinen Charakter. Aus dem unverdorbenen, lebenslustigen und freigiebigen Trapper und Abenteurer wird mit den Jahren des Stadtlebens ein schwacher, einsamer, verbitterter und geiziger Mann.

Erst die Liebe zu seiner Sekretärin Dede Mason, eine Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat, lässt ihn aufwachen und wieder die wahren Werte im Leben eines Menschen erkennen.

Die Szene stammt aus dem ersten Teil des Buches. Burning Daylight und drei Kumpanen sind im arktischen Winter aufgebrochen, um die große Goldmine zu finden. Das Schicksal spielt den 4 Helden jedoch übel mit:

Als zu dieser Zeit die Bohnen knapp wurden, fuhr Elijah nach dem Hauptlager zurück, um mehr Proviant zu holen. Elijah war selbst ein erprobter alter Schlittenführer. Es waren rund hundert Meilen, aber er versprach, am dritten Tage zurückzukommen, indem er einen Tag für die Hinfahrt und zwei für den Rückweg mit dem beladenen Schlitten berechnete. Statt dessen kam er schon am Abend des zweiten Tages. Die anderen hatten sich gerade schlafen gelegt, als sie ihn kommen hörten.

„Was ist los, zum Teufel?“ fragte Henry Finn, als der leere Schlitten in den Lichtschein fuhr und er bemerkte, dass Elijahs langes ernstes Gesicht noch länger und ernster als gewöhnlich war. Joe Hines warf Holz auf das Feuer, und die drei in ihre Schlafsäcke gehüllten Männer krochen dicht ans Feuer heran. Elijahs bärtiges Gesicht war bis zu den Augenbrauen mit einer Eisschicht bedeckt, so dass er der Karikatur eines Weihnachtsmannes glich.

„Ihr wisst die große Tanne, direkt am Flusse, die die eine Ecke des Brettes mit unsern Vorräten trägt?“ begann er. Das Unglück war schnell erzählt. Der scheinbar starke Baum war von irgendeiner versteckten Krankheit angegriffen gewesen, hatte die Last der Vorräte und des Schnees nicht getragen, hatte das so lange bewahrte Gleichgewicht verloren und war zu Boden gestürzt. Die Vorräte waren fort.

Die Vielfraße hatten alles, was sie nicht gefressen hatten, verdorben.

„Sie haben allen Speck, Pflaumen, Zucker und Hundefuttergefressen“, berichtete Elijah. „Und dann haben die verdammten Biester Löcher in die Säcke gefressen und Mehl, Bohnen und Reis von Dan bis Beerseba verstreut. Ich hab’ leere Mehlsäcke gefunden, die sie eine Viertelmeile verschleppt hatten.“

Eine Weile sprach keiner ein Wort. Es war eine Katastrophe, mitten in einem arktischen Winter und einem vom Wilde verlassenen Lande den Proviant zu verlieren. Das Entsetzen lähmte sie nicht, aber sie mussten der Situation ins Auge sehen und einen Ausweg finden. Joe Hines fand zuerst die Sprache wieder: „Wir können Reis und Bohn aus dem Schnee auswaschen, wenn es auch nicht mehr als acht bis zehn Pfund geben wird.“

„Und einer muss mit einem Gespann bis nach Sixty Mile hinunter“, sagte Daylight.

„Ich fahre“, sagte Finn.

Sie grübelten eine Weile.

„Aber wie sollen wir das andere Gespann und drei Mann ernähren, bis er zurückkommt?“ fragte Hines.

„Es gibt nur eine Möglichkeit“, meinte Elijah. „Du musst das andere Gespann nehmen, Joe, und den Stewart hin auffahren, bis du die Indianer findest. Dann kommst du mit Fleisch zurück. Du musst lange wieder da sein, eh Henry von Sixty Mile zurück ist, und in eurer Abwesenheit brauchen wir nur Essen für Daylight und mich. Wir müssen uns eben mit kleinen Rationen begnügen.“

„Und morgen früh fahren wir alle zum Depot und waschen den Schnee aus, um zu sehen, was wir haben.“ Mit diesen Worten legte Daylight sich hin und wickelte sich in seinen Schlafsack. „Jetzt wollen wir schlafen, damit wir morgen zeitig wegkommen“, fügte er hinzu. „Zwei von euch können die Hunde mitnehmen. Elijah und ich werden einen Abstecher machen, um zu sehen, ob wir einen Elch erwischen.“

Es wurde keine Zeit verloren. Mit den Runden, die schon auf kleine Rationen gesetzt waren, gebrauchten Hines und Finn zwei Tage, um das Depot zu erreichen. Am Abend des dritten Tages traf Elijah ein, aber er hatte keinen Elch gesehen, und in der Nacht kam Daylight und berichtete dasselbe. Gleich nach ihrer Ankunft machten sich die Männer daran, den Schnee in der Umgebung des Depots gründlich auszuwaschen. Es war eine tüchtige Arbeit, denn sie fanden verstreute Bohnen bis hundert Schritt vom Depot entfernt. Noch ein Tag verging damit, aber das Ergebnis war kläglich, und die vier Männer verteilten redlich die wenigen Pfund Proviant unter sich, die sie dabei gewonnen hatten.

Den Löwenanteil erhielten Daylight und Elijah. Die Männer, die mit den Hunden den Stewart hinauf- und hinabfuhren, würden eher Proviant erhalten. Die beiden Zurückbleibenden aber mussten ausharren, bis die andern zurückkehrten. Überdies konnten im Notfall die Hunde, die bei der geringen täglichen Ration nur langsam vorwärts kamen, gegessen werden. Die Zurückbleibenden aber hatten keine Hunde. Aus diesem Grunde übernahmen Daylight und Elijah den gefährlicheren Posten. Die Tage vergingen; ganz unmerklich glitt der Winter in den nordischen Frühling hinüber, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt. Es war der Frühling des Jahres 1896. Jeden Morgen erhob sich die Sonne weiter östlich, blieb länger am Himmel und sank weiter im Westen. Der März ging zu Ende, der April begann, und Daylight und Elijah, mager und hungrig, begannen sich Gedanken zu machen, was ihren Kameraden zugestoßen sein mochte. Selbst wenn sie jede erdenkliche Verspätung in Betracht zogen und noch ein paar Tage hinzurechneten, hätten sie längst zurück sein müssen. Ohne Zweifel war ihnen etwas zugestoßen. Vorsichtshalber waren sie beide in verschiedene Richtungen ausgeschickt. Sollte ihnen nun beiden etwas zugestoßen sein? Das wäre der letzte Schlag gewesen.

Inzwischen schlugen Daylight und Elijah, die die Hoffnung nicht aufgaben, sich kümmerlich durch. Das Tauwetter hatte noch nicht begonnen, so dass sie den Schnee in der Umgebung des zerstörten Depots aufsammeln und in Töpfen, Eimern und Goldpfannen schmelzen konnten Wenn das Wasser dann abgestanden war, zeigte sich auf dem Boden der Gefäße eine dünne, schleimige Lage Es war das Mehl, die verschwindende Spur dessen, was über Tausende von Kubikmetern Schnee verstreut war. In dieser schleimigen Masse fanden sie zuweilen auch ein aufgeweichtes Teeblatt oder ein bisschen Kaffeegrus, mit Erdteilchen und Schmutz vermischt. Aber je weiter sie sich vom Depot entfernten, desto schwächer wurden die Mehlspuren, desto geringer die Schleimlage. Elijah war der Ältere und seine Kräfte versagten zuerst, so dass er die meiste Zeit in seinem Schlafsack verbringen musste. Hin und wieder schoss Daylight ein Eichhörnchen, mit dem sie ihr Leben erhielten. Die Jagd war seine Sache und eine schwere Arbeit. Bei einem Munitionsvorrat von nur dreißig Schuss durfte er keinen Fehlschuss riskieren, und obwohl seine Büchse ein Kaliber von 45 bis 90 hatte, war er gezwungen, die kleinen Tierchen durch den Kopf zu schießen. Es gab nur sehr wenige, und es vergingen Tage, ohne dass sie eines zu Gesicht bekamen. Geschah das aber, dann traf er alle möglichen Vorsichtsmaßregeln. Stundenlang pirschte er sich an. Unzählige Male zielte er mit vor Schwäche zitternden Armen und schoss doch nicht. Sein eiserner Wille hielt ihn zurück. Ehe er seiner Sache sicher war, wollte er nicht schießen. So schrecklich Hunger und Sehnsucht nach dem bisschen Leben ihn auch quälten, wollte er sich doch nicht der Möglichkeit eines Fehlschusses aussetzen. Als der geborene Spieler, der er war, spielte er jetzt um den höchsten Einsatz. Sein Leben war der Einsatz, und er spielte, wie nur ein Spieler es kann, mit unsagbarer Überlegung. Das Ergebnis war, dass er nie fehlte. Jeder Schuss bedeutete ein Eichhörnchen, und wenn auch Tage zwischen den einzelnen Schüssen vergehen konnten, änderte er doch nie seine Spielmethode.

Von der Beute wurde nichts vergeudet. Selbst das Fell wurde zu Suppe ausgekocht, jeder Knochen zu Mehl zerstampft. Daylight suchte unter dem Schnee und fand hier und da ein paar Moosbeeren. Aber die meisten Beeren, die er fand, stammten vom vorigen Jahre, waren trocken und eingeschrumpft und besaßen nur einen ganz geringen Nährwert. Nicht viel besser war die Rinde der jungen Zweige.

Der April näherte sich seinem Ende, und der Frühling strich übers Land. Die Tage wurden länger. Wo die Sonne hinschien, begann der Schnee zu schmelzen, und unter dem Schnee quoll das Wasser hervor. Vierundzwanzig Stunden lang blies der Chinook-Wind, und in diesen vierundzwanzig Stunden sank die Schneedecke einen ganzen Fuß. Gegen Abend fror der geschmolzene Schnee wieder, so dass seine Oberfläche imstande war, das Gewicht eines Mannes zu tragen. Aus dem Süden erschienen kleine weiße Schneesperlinge, rasteten einen Tag und setzten dann die Reise nach dem Norden fort. Einmal sahen sie hoch oben einen Schwarm Wildgänse, der sich verfrüht hatte und, nach offenem Wasser ausspähend, nordwärts flog. Und drunten am Flusse war eine Zwergweide voller Knospen. Diese jungen Knospen konnten gekocht werden und ergaben eine ausgezeichnete Mahlzeit. Elijah fasste frischen Mut, wenn er ihn auch ebenso schnell wieder verlor, als Daylight keine weiteren Knospen fand.

Der Saft in den Bäumen stieg, und täglich wurde der rieselnde Laut unsichtbarer Quellen stärker: das gefrorene Land erwachte zu neuem Leben. Aber der Fluss wurde immer noch in den Fesseln des Frostes gehalten. Der Winter hatte viele Monate gebraucht, um sie so fest zu schmieden, dass sie nicht an einem Tage, nicht einmal durch den Donnerkeil des Frühlings gebrochen werden konnten. Der Mai kam, und die letzten Überlebenden der vorjährigen Moskitoschwärme krochen ausgewachsen, aber unschädlich aus Felsspalten und morschen Baumstämmen hervor. Die Grillen begannen zu zirpen, und immer mehr Enten und Gänse zogen über ihren Häuptern dahin. Und noch hielt der Fluss. Am zehnten Mai riss sich die Eisdecke des Stewart mit Krachen und Getöse von den Ufern los und stieg drei Fuß. Aber sie trieben nicht stromabwärts. Erst musste der untere Yukon dort, wo der Stewart in ihn mündete, aufbrechen und ins Treiben kommen. Bis dahin konnte das Eis des Stewart nur immer höher steigen, je reißender der Strom darunter wurde. Wann der Yukon aufbrechen würde, war nicht vorauszusagen. Zweitausend Meilen von hier; floss er in die Beringsee, und auf die Eisverhältnisse in der Beringsee kam es an, ob der Yukon sich von den Millionen Tonnen befreite, die auf seiner Brust lagen.

Am zwölften Mai machten sich die beiden Männer mit ihren Schlafsäcken, einem Eimer, einer Axt und der kostbaren Büchse auf den Weg über das Eis zum Fluss hinunter. Ihre Absicht war, bis zu dem Depot mit der verlassenen Schute zu gehen, die sie getroffen hatten und in der sie sich nun, sobald das Wasser offen war, vom Strom nach Sixty Mile treiben lassen wollten. Erschöpft und ohne Nahrung, wie sie waren, musste es eine langsame und beschwerliche Reise werden. Elijah fiel oft hin und war dann außerstande, wieder aufzustehen. Daylight verausgabte seine eigenen Kräfte, um ihn wieder aufzurichten. Dann wankte der Alte automatisch weiter, bis er das nächste Mal stolperte und hinfiel.

An dem Tage, als sie das Boot hätten erreichen sollen, brach Elijah völlig zusammen. Als Daylight ihn aufhob, ließ er sich sofort wieder fallen. Daylight versuchte ihn zu stützen, war aber selbst so schwach, dass sie beide hinfielen. Er schleppte Elijah ans Ufer, ein notdürftiges Lager wurde aufgeschlagen, und Daylight ging fort, um nach Eichhörnchen auszuspähen. Jetzt war auch er am Ende seiner Kraft. Am Abend fand er das erste Eichhörnchen, aber es wurde dunkel, ohne dass er zu einem sicheren Schuss kam. Mit der Geduld eines Wilden wartete er bis zum nächsten Tage, und dann, nach einer Stunde, war das Eichhörnchen sein. Das meiste gab er Elijah und behielt selbst nur die zäheren Teile und die Knochen. Aber so ist die chemische Beschaffenheit des Lebens, dass dies kleine Wesen, dies Stückchen lebenden Fleisches in menschliche Nahrung umgesetzt, seine Bewegungskraft auf die beiden Männer übertrug. Dieselbe Energie, die die Triebfeder dieser Bewegungen gewesen, Kraft und Beweglichkeit des Tierchens ausgemacht hatte, durchströmte die ausgemergelten Muskeln und den wankenden Willen der Männer und gab ihnen die Kraft, die paar Meilen zu wandern, die zwischen ihnen und dem Boote lagen. Als sie es erreicht hatten, brachen sie zusammen und blieben eine lange Weile unbeweglich liegen. Für einen starken Mann wäre es eine leichte Arbeit gewesen, das kleine Boot zum Ufer hinunter zu schaffen. aber Daylight brauchte Stunden dazu. Und tagelang mühte er sich ab, Moos in die klaffenden Risse zu stopfen. Aber selbst, als das getan, hielt der Fluss noch immer. Das Eis hatte sich mehrere Fuß gehoben, machte aber keine Anstalten, stromabwärts zu treiben. Noch eine weitere schwere Arbeit wartete ihrer; das Boot musste ins Wasser geschafft werden, wenn es so weit war, dass sie ihre Fahrt beginnen konnten. Vergebens wankte und stolperte Daylight durch den nassen Schnee oder über die Eisringe, die der Nachtfrost darüber gebreitet hatte, fiel, kroch auf allen Vieren und spähte nach weiteren Eichhörnchen aus, um noch einmal die schnelle Beweglichkeit des Tierchens in menschliche Körperenergie umzusetzen und das Boot über die Eiskante in den Strom zu heben.

Erst am zwanzigsten Mai brach das Eis. Die Bewegung begann um fünf Uhr morgens. Die Tage waren schon so lang, dass Daylight sich aufsetzte und das Treiben des Eises betrachtete. Elijah war zu mitgenommen, um sich für das Schauspiel zu interessieren. Obgleich bei Bewusstsein, blieb er doch regungslos liegen, während das Eis vorbeisauste und große Stücke gegen das Ufer krachten, Bäume mit der Wurzel ausrissen und die Erde untergruben. Der ganze Boden um sie her wurde von diesen gewaltigen Zusammenstößen erschüttert. Nach einer Stunde hielt das Eis in seiner Fahrt inne. Irgendwo stromabwärts war es aufgehalten worden. Dann begann der Fluss zu steigen und hob das Eis auf seiner Brust, bis es das Ufer überragte. Immer mehr Wasser strömte den Fluss herunter, und Millionen und Abermillionen Tonnen Eis vermehrten durch ihr Gewicht die angehäufte Menge. Der Druck und die Spannung waren furchtbar. Mächtige Eisschollen wurden herausgepresst, bis sie hoch empor sprangen wie Melonenkerne zwischen Daumen und Zeigefinger eines Kindes, und am Flussufer entstand eine mächtige Eismauer. Als die Barre stromabwärts gesprengt war, verdoppelte sich das scheuernde, krachende Getöse. Noch eine Weile dauerte das Treiben des Eises. Der Fluss sank reißend schnell. Aber die Eismauer am Ufer, die bis hinunter in das sinkende Wasser reichte, blieb.

Nachtreibende Eisschollen kamen vorüber, und zum erstenmal seit sechs Monaten sah Daylight offenes Wasser. Er wusste, dass das Eis den oberen Lauf des Stewart noch nicht verlassen hatte, dort aufgehäuft und zusammengepresst war und dass es jederzeit losbrechen und ein zweites Eistreiben verursachen konnte; aber ihre Lage war zu verzweifelt, als dass er noch länger hätte warten dürfen. Elijah war dem Tode nahe. Er selbst war nicht sicher, ob er Kraft genug in seinen ausgemergelten Muskeln besaß, um das Boot flott zumachen. Alles stand auf dem Spiel. Auf das nächste Eistreiben warten? Dann war Elijah sicher tot, und er selbst wahrscheinlich auch. Gelang es ihm, das Boot flott zumachen und einen Vorsprung vor dem zweiten Eistreiben zu gewinnen, ohne vom Eise des oberen Yukon eingeholt zu werden, so erreichten sie Sixty Mile und waren gerettet, wenn - und hier war wieder ein großes Wenn -, wenn er Kräfte genug besaß, das Boot in Sixty Mile zu landen und nicht vorbeizufahren.

Er machte sich an die Arbeit. Die Eismauer erhob sich fünf Fuß über den Boden, auf dem das Boot ruhte. Er suchte die beste Stelle aus, um das Boot ins Wasser zu bringen, und fand eine mächtige Eisscholle, die sich schräg aus dem Wasser dicht an die Eismauer schob. Es war eine ganze Strecke bis dahin, aber nach einer Stunde hatte er es geschafft. Er war krank vor Anstrengung, und zeitweise wurde ihm schwarz vor Augen, er konnte nichts sehen. Lichtpunkte und Streifen, qualvoll wie Diamantstaub, tanzten ihm vor den Augen, während sein Herz klopfte, dass er fast erstickte. Elijah zeigte kein Interesse, er lag regungslos da, ohne die Augen aufzuschlagen, und Daylight musste seinen Kampf allein ausfechten. Zuletzt - die gewaltige Anstrengung zwang ihn in die Knie - glückte es ihm, das Boot in sicherem Gleichgewicht oben auf die Mauer zu bringen. Auf Händen und Füßen kriechend, brachte er dann seinen Schlafsack, die Büchse und den Eimer ins Boot. Die Axt ließ er liegen, denn er hätte zwanzig Fuß zurückkriechen müssen, um sie zu holen, und er wusste, dass er sie nicht mehr brauchte.

Elijah ins Boot zu schaffen, war schwieriger, als er gedacht hatte. Zoll für Zoll, mit Pausen zwischen jedem Griff, schleppte er ihn über den Boden auf eine Eisscholle, die neben dem Boot lag. Aber ins Boot hinein vermochte er ihn nicht zu bringen. Elijahs kraftloser Körper war weit schwerer zu heben, als ein entsprechendes starres Gewicht. Daylight wollte ihn hochziehen, aber der schlaffe Körper knickte in der Mitte zusammen wie ein halbgefüllter Mehlsack. Da kletterte Daylight ins Boot und versuchte, seinen Kameraden hinter sich herzuschleppen. Aber er brachte nur Elijahs Kopf und Schultern über den Bootsrand. Sobald er oben losließ, um weiter unten zu packen, knickte der Erschöpfte auch schon wieder in der Mitte zusammen und glitt auf das Eis zurück.

Da entschloss sich Daylight zu einem letzten verzweifelten Mittel.

„Herrgott, du Jammerlappen, nimm dich zusammen!“ schrie er. „Da, du verdammter Kerl, da hast du’s!“

Und jedes Wort begleitete ein Schlag auf die Backen, die Nase, den Mund, um auf diese gewaltsame Weise die fliehende Seele und den verirrten Willen des Mannes wieder ins Leben zu rufen. Die zitternden Augenlider hoben sich.

„Pass auf!“ schrie Daylight mit heiserer Stimme. „Wenn du deinen Kopf über den Bootsrand bekommst, so häng fest! Hörst du? Häng fest! Beiß mit den Zähnen hinein, aber häng fest!“

Die zitternden Augenlider schlossen sich wieder, aber Daylight wusste, dass seine Worte gewirkt hatten. Wieder zog er Kopf und Schultern des Hilflosen über die Reling.

„Häng fest, zum Teufel! Beiß hinein!“ schrie er, als er losließ, um ihn unten zu packen.

Eine schlaffe Hand glitt von der Reling ab, und auch die Finger der andern ließen nach, aber Elijah gehorchte und hielt sich mit den Zähnen. Als Daylight ihn hochzog, scheuerte Elijahs Gesicht gegen den Boden des Bootes und Holzsplitter rissen ihm die Haut von Nase, Lippen und Kinn, aber kopfüber glitt er immer weiter ins Boot hinein, bis in kraftloser Körper quer über der Reling zusammenfiel und nur noch die Beine über den Bootsrand hinaushingen. Aber auch die schob Daylight hinter ihm her ins Boot. Dann schöpfte er tief Atem, drehte Elijah auf den Rücken und deckte ihn mit den Schlafsäcken zu.

Nun war noch das letzte übrig - das Boot zu Wasser zu bringen. Dies war naturgemäß das schwerste von allem und verlangte eine riesige Kraftanspannung. Daylight nahm alle Kräfte zusammen und machte sich ans Werk. Es musste aber etwas in ihm gesprungen sein, denn als er nach einem Augenblick der Bewusstlosigkeit zu sich kam, lag er zusammengekrümmt auf dem scharfen Stern des Bootes. Zum erstenmal in seinem Leben war er ohnmächtig geworden. Dazu hatte er das Gefühl, dass er fertig wäre, dass er alle Beweglichkeit verloren hätte und, was das merkwürdigste war, dass ihm das alles ganz gleichgültig sei. Er hatte Visionen, klare und lebendige Visionen, und seine Sinne waren scharf wie die Schneide einer Stahlklinge. Er, der all seine Tage das nackte Leben vor Augen gehabt, hatte nie zuvor so viel von der Nacktheit des Lebens gesehen. Zum erstenmal spürte er einen Zweifel an seiner eigenen strahlenden Persönlichkeit. In diesem Augenblick strauchelte das Leben und vergaß zu lügen. Alles in allem war er nur ein kleiner Wurm, gerade wie alle andern Würmer, wie das Eichhörnchen, das er verzehrt, wie die andern Männer, die er hatte sterben sehen, wie Joe Hines und Henry Finn, die sicher ihren Untergang gefunden hatten, wie Elijah, der mit zerschundenem Gesicht auf dem Boden des Bootes lag, ohne sich um etwas zu kümmern. Wie Daylight lag, konnte er den Fluss hinauf bis zu der Biegung sehen, um die früher oder später das neue Eistreiben kommen musste. Und als er so hinausblickte, war es ihm, als könnte er zurückblicken durch die Zeiten in eine Vergangenheit, als es weder Weiße noch Indianer im Lande gab, und immer sah er denselben Stewart, Winter auf Winter, mit Eis beladen, und Frühling auf Frühling, das Eis sprengend, bis er wieder frei dahinströmte. Und auch in eine unendliche Zukunft sah er, wenn die Letzten des Menschengeschlechtes die Oberfläche von Alaska verlassen hatten, und er sah, ewig gleich, den Fluss, mit Eis und Überschwemmung, immer und immer strömen.

Das Leben hatte gelogen und betrogen. Es narrte alle Geschöpfe. Es hatte ihn genarrt, ihn, Burning Daylight, der es wie kaum ein zweiter mit Frohsinn gedeutet hatte. Er war nichts - nur ein Bündel Fleisch und Nerven, das im Schmutze herumkroch, um Gold zu finden, das träumte, strebte und spielte und das verging und hin war. Nur die toten Dinge blieben, die Dinge, die nicht Fleisch und Nerven waren - der Sand, die Erde und der Kies, die Ebenen, die Berge, der Fluss selbst, der zufror und seine Decke sprengte, Jahr für Jahr, alle Zeit. Alles in allem war es ein falsches Spiel. Wer starb, konnte nicht gewinnen, und alle starben. Wer gewann? Nicht einmal das Leben, der Lockvogel, der zum Spiel verleitete - das Leben, der immer blühende Kirchhof, das ewige Grabgefolge. Für einen Augenblick kehrte er zur Gegenwart zurück und bemerkte, dass der Fluss immer noch offen war und dass ein Häher sich auf dem Achterende des Bootes niedergelassen hatte und ihn frech ansah. Dann kehrte er wieder zu seinen Betrachtungen zurück.

Es war nicht möglich, dem Ende des Spiels zu entgehen. Sicherlich war er dazu verurteilt, alles mitzumachen. Und was dann? Immer wieder grübelte er über diese Frage nach.

Für Religion hatte Daylight keinen Sinn. Er hatte eine Art Religion gelebt, indem er ehrliches Spiel mit andern gespielt hatte, ohne metaphysische Spekulationen über ein höheres Leben anzustellen. Der Tod beendete alles. Das hatte er stets geglaubt, ohne sich davor zu fürchten. Und auch in diesem Augenblick, als das Boot unbeweglich fünfzehn Fuß hoch über dem Wasser hing, und er selbst vor Schwäche ohnmächtig und von aller Kraft verlassen war, glaubte er noch, dass der Tod alles beende, und fürchtete sich nicht. Seine Lebensanschauung war zu einfach, um bei der ersten - oder letzten - Todesfurcht über den Haufen geworfen zu werden.

Er hatte Menschen und Tiere sterben sehen, und die Erinnerung an ihr Sterben tauchte in ihm auf. Er sah sie wieder wie damals, und sie machten keinen Eindruck auf ihn. Sie waren tot - seit langem tot. Der Tod war leicht - leichter, als er ihn sich je vorgestellt hatte, und jetzt, wo er so nahe war, freute er sich auf ihn.

Ein neues Bild zeigte sich ihm. Er sah seine Traumstadt - die goldene Metropole des Nordens, die auf den Hängen über dem Yukon lag und sich weit über die Ebene erstreckte. Reihe an Reihe sah er die am Ufer vertäuten Dampfer; er sah die Sägemühlen arbeiten und die langen Hundegespanne mit Doppelschlitten hinter sich, die mit Proviant für die Goldgräber beladen waren. Und weiter sah er die Spielhäuser, die Banken, die Börsen und alle die vielen Möglichkeiten für ein weit höheres Spiel, als er es je gesehen. Es musste doch mit dem Teufel zugehen, dachte er - nicht mit dabei sein zu können, wenn die Chance, die er in seinem Innern gespürt hatte, zur Wirklichkeit, wenn der große Goldfund gemacht wurde. Bei dem Gedanken hob das Leben das Haupt und begann noch einmal seine alten Lügen zu wispern. Daylight rollte vom Boot herunter und lehnte sich, auf dem Eise sitzend, dagegen. Er wünschte, mit dabei zusein. Und warum sollte er es nicht? Irgendwo in seinen ausgemergelten Muskeln besaß er noch Kraft genug, das Boot über den Eisrand ins Wasser zu schaffen. Ganz sinnlos tauchte der Gedanke in ihm auf, einen Anteil an den Grundstücken von Harper und Ladue zu kaufen. Sie würden ihn sicher zu günstigen Bedingungen als dritten Teilhaber aufnehmen. Würde dann der große Goldfund am Stewart gemacht, so hätte er sich dort in seiner Elam-Harnish- Stadt festgesetzt, und erfolgte er am Klondike, so wäre er doch nicht ganz aus dem Spiel geschlagen.

Aber inzwischen wollte er Kräfte sammeln. Er streckte sich der Länge nach, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Eise aus, blieb eine halbe Stunde so liegen und sammelte Kräfte. Dann erhob er sich, schüttelte die Blindheit von den Augen und machte sich an die Arbeit. Er wusste genau, wie es um ihn stand; missglückte die erste Anstrengung, so mussten auch alle späteren scheitern. Er musste alle seine wieder gewonnene Kraft in einer einzigen Anstrengung zur Entladung bringen, so gründlich, dass für später nichts zu tun übrig blieb.

Er hob, hob mit der Seele wie mit dem Körper, und alle Kraft seines Körpers und seiner Seele wurden in dieser Anstrengung ausgelöst. Das Boot hob sich. Er glaubte, ohnmächtig zu werden, hob aber weiter. Er fühlte, wie das Boot nachgab und ins Gleiten kam. Mit dem letzten Rest seiner Kraft ließ er sich hineinfallen und landete als ein Häufchen Elend auf Elijahs Beinen. Er war zu müde, um sich zu erheben, und so lag er da und hörte und fühlte, wie das Boot ins Wasser glitt. An den Baumwipfeln konnte er sehen, dass es im Kreise herumwirbelte. Dann kam ein Krachen und Stoßen, und aus Eisstücken, die um ihn herumflogen, entnahm er, dass das Boot gegen das Ufer gestoßen sein musste. Wohl ein Dutzend mal wirbelte es herum und stieß dagegen, dann schwamm es endlich leicht und frei dahin.

Daylight kam zu sich und sagte sich, dass er geschlafen haben musste. Nach dem Stand der Sonne mussten Stunden vergangen sein. Es war früh am Nachmittag. Er schleppte sich nach achtern und setzte sich aufrecht. Das Boot befand sich mitten im Strom, die bewaldeten Ufer mit ihrem breiten Fuß leuchtenden Eises glitten vorbei. Neben ihm trieb eine mächtige Kiefer, die mit der Wurzel ausgerissen war, vorüber. Eine Laune der Strömung legte das Boot neben sie. Er kroch nach vorn und befestigte die Leine an einer der Wurzeln. Da der Baum tiefer im Wasser lag, trieb er schneller, die Leine spannte sich, und das Boot folgte in seinem Kielwasser. Er warf noch einen letzten Blick auf seine Umgebung, sah die Ufer auf dem Kopfe stehen und die Sonne am Himmel wie ein Pendel hin- und herschwingen, wickelte sich in seinen Schlafsack, legte sich auf den Boden des Bootes und schlief ein.

Als er erwachte, war es finstere Nacht. Er lag auf dem Rücken und sah die Sterne schimmern. Ein gedämpftes Murmeln schwellenden Wassers drang an sein Ohr. Ein plötzlicher Ruck belehrte ihn, dass die Leine, die bisher schlaff gewesen war, auf einmal von der schneller treibenden Kiefer angezogen worden war. Ein Stück verirrten Treibeises schlug gegen das Boot und scheuerte gegen seine Seite.

„Schön“, dachte er, „dann wäre die Eisbarre vorüber“, schloss die Augen und schlief wieder ein.

Als er das nächste mal erwachte, war heller Tag. Die Sonne zeigte, dass es Mittag war. Ein Blick auf die entfernten Ufer, und er wusste, dass er sich auf dem mächtigen Yukon befand. Sixty Mile konnte nicht mehr fern sein. Er war furchtbar schwach. Seine Bewegungen waren langsam, tastend und unsicher; er keuchte und wurde von Schwindel befallen, aber er zwang sich, die Büchse in der Hand, aufrecht im Stern des Bootes zu sitzen. Er betrachtete Elijah lange, konnte aber nicht sehen, ob er atmete oder nicht, die Entfernung bis zu ihm war allzu weit.

Er begann wieder zu träumen und Betrachtungen anzustellen, aber Träume und Gedanken wurden von langen Perioden der Leere abgelöst, in denen er weder schlief noch bei vollem Bewusstsein war. Dazwischen jedoch kamen wieder klare Augenblicke, und dann dachte er über seine Lage nach. Er war noch am Leben, und aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er gerettet; aber wie kam es, dass er nicht quer über dem Bootsrande oben auf der Eismauer lag? Dann erinnerte er sich der letzten großen Anstrengung, die er gemacht hatte. Aber warum hatte er sie gemacht? fragte er sich. Nicht aus Todesfurcht. Er hatte sich nicht gefürchtet, das wusste er bestimmt. Dann erinnerte er sich seiner Chance und des großen kommenden Goldfundes, an den er so fest glaubte, und er wusste, dass das, was ihn angespornt, der Wunsch war, das große Spiel mitzumachen. Und wieder warum? Wenn er nun wirklich seine Million hatte? Er würde gerade so sterben wie die andern, die eben ihr Leben fristeten. Also warum? Aber die Perioden der Leere in seinem Denken begannen häufiger zu kommen, und er übergab sich auf Gnade und Ungnade der wundervollen Mattigkeit, die ihn beschlich...

Mit einem Ruck fuhr er auf. Etwas in ihm hatte geflüstert, dass er aufwachen müsse. Plötzlich sah er Sixty Mile, keine hundert Fuß entfernt. Die Strömung hatte ihn dicht an die Stadt geführt. Aber dieselbe Strömung trieb ihn jetzt weiter, hinaus in die Wildnis des unteren Flusslaufes. Kein Mensch war zu sehen. War der Ort verlassen? Aber er sah den Rauch aus einem Küchenschornstein aufsteigen. Er versuchte zu rufen, konnte aber keinen Ton, nur ein unnatürliches Röcheln hervorbringen. Er tastete nach der Büchse, hob sie an die Schulter und drückte ab. Der Rückstoß war so stark, dass ein fast unerträglicher Schmerz ihn durchzuckte. Die Büchse war ihm auf die Knie gefallen, und ein Versuch, sie nochmals zu erheben, missglückte. Er wusste, dass er eilen musste, und fühlte das Bewusstsein schwinden, und so drückte er ab, wo seine zitternden Hände die Büchse fanden. Der Schuss ging los, und die Büchse fiel über Bord. Aber ehe die Finsternis ihn einhüllte, sah er noch, wie die Küchentür geöffnet wurde und eine Frau zu der Tür des großen Blockhauses heraussah, das einen grässlichen Tanz zwischen den Bäumen aufführte.